»Midsommar« – Let the festivities begin!

Das Warten hat ein Ende, da ist er nun endlich – Ari Asters neuer Film »Midsommar« – und der hat es richtig in sich!
Es fällt mir überaus schwer, diesen Film, nein – dieses Kunstwerk einzuordnen. Denn so etwas habe ich in der Form noch nie gesehen.

»Midsommar« ist ein einzigartiges und bahnbrechendes Meisterwerk für die Filmgeschichte.

Schon von der ersten Sekunde an werden wir in einen faszinierenden Sog gezogen. Regisseur und Drehbuchautor Ari Aster hat ein unglaubliches Gespür für Atmosphäre. Mit ausdrucksvollen Bildern und langsamen Kamerafahrten zieht er uns in einen ganz besonderen Bann. Spannung, Emotion, Gänsehaut – Schon zu Beginn des Films spüren wir in jeder Faser unseres Körpers die geballte Intensität des Kinos.

Zunächst ist das Geschehen in dunkle Töne und Farben gehüllt, die Beleuchtung ist präzise und ästhetisch. Das erinnert zunächst noch an Asters ersten Spielfilm, das Horror-Meisterwerk »Hereditary«.
Später wird daraus das komplette Gegenteil, die vorherrschende Farbe ist weiß. Schon in »Hereditary« war die Kameraarbeit des Polen Pawel Pogorzelski hervorragend. Die Bildgestaltung in »Midsommar« ist überragend und setzt neue Maßstäbe.

»Midsommar« ist ein Horrorfilm der anderen Art.
Ab und zu nahm ich feine Anspielungen auf Horrorklassiker wahr, wer aber zum Beispiel effekthascherische Jumpscares erwartet, ist hier fehl am Platz, denn das Grauen zieht sich ganz schleichend dahin.

Die meiste Zeit ist es hell im schwedischen Hälsingland, in das sich eine Gruppe von US-amerikanischen Freunden begibt, um an den Feierlichkeiten des traditionellen Mittsommerfestes einer spirituellen Gemeinschaft oder eher großen Familie teilzunehmen, zu denen sie von ihrem schwedischen Freund eingeladen wurden. Die Beziehung der beiden Protagonisten Dani und Christian befindet sich in einem fragilen Zustand. Dani leidet unter einem tragischen Verlust, dem Thema, das Regisseur Aster wohl am meisten interessiert. Der Film ist von seiner eigenen Gefühlswelt inspiriert. Wie konkret, will ich euch mal lieber noch nicht verraten.

Wie haben wir das alles zu deuten? Das ist eine schwierige Frage, denn »Midsommar« bietet eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten.
Zwar ging ich nicht verwirrt aus dem Kino wie nach einem Film á la David Lynch, doch war ich erst einmal überfordert von der Intensität dieses einzigartigen Kinoerlebnisses. Für mich ist »Midsommar« in erster Linie ein expressionistisches Beziehungsdrama und in zweiter eine Kritik an der schwedischen Gesellschaft. Es ist eine Reise durch die Gefühlswelt eines Menschen, der einen tragischen Verlust durchleben muss, von einem anderen Menschen enttäuscht und hintergangen wird und es geht um das Aufeinandertreffen einer isolierten Gemeinschaft mit Außenseitern und ihren Umgang mit diesen. Wie würden wir in solchen Situationen reagieren? So extrem und explizit »Midsommar« in seiner Darstellung auch ist, ich denke, dass sich viele von uns in verschiedene Akteure und ihr Handeln in gewisser Hinsicht hineinversetzen können.

Abgesehen von der konkreten Interpretation seiner Metaphorik war »Midsommar« eine transzendente Kinoerfahrung, die mich nachhaltig inspiriert hat.

In meinen Augen verstehen einige der populären deutschen Filmkritiker diesen Film falsch. Wenn ein Horrorfilm dich nicht alle zehn Sekunden aus dem Sessel fahren lässt oder sich Handlung und Grauen an einigen Stellen dahinziehen, dann ist das nicht unbedingt gleich ein Zeichen für einen schlechten Genrevertreter oder ein fahrlässiges Drehbuch – In diesem Fall ist es vielmehr ein Zeichen für einen Film, der sich nicht in vorgefertigte Schubladen stecken lässt, für einen Film, den man nicht mithilfe einer klassischen Drehbuchanalyse auseinandernehmen kann. Dieser Film wird in vielerlei Hinsicht polarisieren, das aber vor allem, weil ihn nicht jeder verstehen kann. Insgesamt äußerte sich die hiesige Kritikerlandschaft aber wie auch die internationale überwiegend positiv.

Ari Aster und Jordan Peele (»Get Out«, »Us«) geben derzeit dem Begriff »Horrorfilm« eine ganz andere Bedeutung. Beide führen uns vor Augen, wie viel man aus diesem Genre alles machen kann. Sie beschränken sich nicht auf starre Genrekonventionen und lassen sich von sturem Schubladendenken nicht einschüchtern, sondern erschaffen Filme, die man eigentlich nicht einer bestimmten Gattung zuordnen kann, weil sie so einzigartig und vielseitig sind. US-amerikanische Filmkritiker nennen das »elevated horror« – passender kann man es wohl nicht beschreiben.

»Midsommar« – Release (Deutschland): 26. September 2019

Trailer (ENG)

Trailer (DEU)

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